Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich
- Fräulein Kitty
- 4. Mai
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 6 Stunden

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.“
Ein Gedanke über das Glück – und seine tausend Schatten.
Es war nur ein Satz. Der erste in einem dicken Buch voller Leben, voller Leidenschaft, voller Zerbruch. Und doch war es dieser eine Satz, der mich innehielten ließ – bevor überhaupt eine Geschichte begonnen hatte:
„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.“
Ich habe ihn gelesen. Und dann nochmal. Und dann habe ich das Buch beiseitegelegt und lange nur diesen Satz betrachtet – wie ein Gemälde, das einen auf einmal mehr ansieht, als man es selbst je könnte.
Denn obwohl Tolstoi hier von Familien spricht, schien mir sein Satz ein viel größeres Geheimnis zu bergen. Ein Geheimnis über das Glück selbst.
Glück, so habe ich es oft erlebt, wird in klaren Farben gemalt. Es ist laut, leuchtend, verständlich. Menschen beschreiben es mit ähnlichen Worten: Liebe. Gesundheit. Erfolg. Sicherheit. Lachen. Ein Sonnenuntergang am Meer. Ein Tisch voller Menschen. Ein freier Atemzug.
Glück ist – in all seiner Kostbarkeit – oft greifbar. Es ist ein Gefühl, das wir kollektiv begreifen. Wir wissen, wie es aussieht, wie es sich anfühlt, wonach es riecht. Wir haben Bilder dafür. Rituale. Worte.
Doch das Unglück?
Das hat keine einheitliche Form. Es hat tausend Stimmen – manche laut, andere flüsternd. Es kriecht unter die Haut oder sitzt schwer auf der Brust. Es kann sich als Leere tarnen oder als rastlose Unruhe. Manchmal ist es der Verlust. Manchmal die Sehnsucht. Oder ein Gefühl, das man selbst nicht einmal benennen kann.
Und in dieser Vielgestaltigkeit liegt etwas Einsames. Denn während das Glück verbindet, macht das Unglück oft sprachlos. Kein Schmerz gleicht dem anderen. Kein Abschied fühlt sich identisch an. Und keine Wunde heilt auf dieselbe Weise.
Ich glaube, genau das hat Tolstoi gemeint. Dass das Glück – in seiner Klarheit – uns einander ähnlich macht. Doch das Unglück entfaltet sich individuell, heimlich, tief. Es sucht sich seinen eigenen Weg durch unsere Gedanken, unsere Körper, unsere Geschichten.
Und so kann es passieren, dass wir nebeneinander stehen – im selben Raum, unter demselben Himmel – und doch Welten voneinander entfernt sind. Weil das, was uns schwer ist, so oft unsichtbar bleibt.
Vielleicht liegt in diesem Gedanken aber auch etwas Tröstliches: Zu wissen, dass Glück ein kollektives Erinnern ist – und Unglück ein persönliches Erleben. Und dass beides Teil dessen ist, was uns menschlich macht.
Vielleicht sollten wir aufhören, Glück so eindimensional zu definieren. Vielleicht dürfen wir uns erlauben, Glück nicht nur in Erfolgen oder erfüllten Erwartungen zu suchen, sondern auch in einem aufrichtigen Gespräch. In einem Atemzug ohne Druck. In dem Moment, in dem jemand sagt: Ich sehe dich. Auch in deinem Anderssein. Auch in deinem Dunkel.
Denn dann – vielleicht genau dann – beginnen sich die vielen Formen des Unglücks zu wandeln. Und werden zu etwas, das kein Name mehr beschreiben kann. Aber das fühlt sich dann vielleicht ein kleines bisschen wie Frieden an.
Buch: Anna Karenina von Lew Tolstoi

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